1
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Estuans intrinsecus ira vehementi
in amaritudine loquor mee menti.
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Brennend im Innern vor heftigem Zorn,
spreche ich mit Erbitterung zu meinem Herz.
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3
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factus de materia levis elementi
folio sum similis, de quo ludunt venti.
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Aus dem Stoff des leichten Elements bin ich gemacht,
dem Blatt bin ich gleich, mit dem die Winde spielen.
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5
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Cum sit enim proprium viro sapienti,
supra petram ponere sedem fudamenti,
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Während es des weisen Mannes Art ist,
auf den Fels sein Fundament zu setzen,
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7
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stultus ego comparor fluvio labenti,
sub eodem aere numquam permanenti.
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bin ich Dummkopf dem dahintreibenden Flusse gleich,
der niemals unter dem selben Himmel bleibt.
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9
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Feror ego veluti sine nauta navis,
ut per vias aeris vaga fertur avis;
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Ich werde dahingetragen wie ein Boot ohne Steuermann,
wie auf luftigen Wegen ein Vogel getragen wird;
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11
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non me tenent vincula, non me tenet clavis,
quero mei similes et adiungor pravis.
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mich hält keine Fessel, mich hält kein Schlüssel,
ich suche meinesgleichen und zähle mich zu den Schlechten.
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13
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Michi cordis gravitas res videtur gravis,
iocus est amabilis dulciorque favis.
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Mir scheint dem Herzen der Ernst viel zu schwer,
der Scherz ist mir angenehm und süßer noch als Honig.
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15
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quicquid Venus imperat, labor est suavis,
que numquam in cordibus habitat ignavis.
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Was Venus auch befiehlt, das ist ein angenehmer Dienst,
da sie in trägen Herzen niemals wohnt.
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17
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Via lata gradior more iuventutis,
implico me vitiis immemor virtutis,
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Ich schreite auf dem breiten Weg nach Sitte der Jugend,
ich verstricke mich in Laster ohne Rücksicht auf die Tugend,
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19
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voluptatis avidus magis quam salutis,
mortuus in anima curam gero cutis.
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nach Lust begierig mehr als nach dem Heil,
bin ich in der Seele tot und lasse es mir gut gehen.
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21
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Presul discretissime, veniam te precor,
morte bona morior, dulci nece necor,
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du erhabenster Bischof, ich bitte dich um Nachsicht,
ich sterbe einen guten Tod, ich werde getötet durch einen süßen Tod,
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23
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meum pectus sauciat puellarum decor,
et quas tactu nequeo, saltem corde mechor.
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die Liebreiz der Mädchen verwundet mein Herz,
und mit denen, die ich nicht vernaschen kann, treibe ich wenigstens im Herzen Ehebruch.
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25
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Res est arduissima vincere naturam,
in aspectu virginis mentem esse puram;
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Es ist überaus schwer, die Natur zu überwinden,
beim Anblick eines Mädchens reinen Sinnes zu bleiben;
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27
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iuvenes non possumus legem sequi duram
leviumque corporum non habere curam.
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wir jungen Männer können keine strengen Vorschriften einhalten
und die geschmeidigen Körper unbeachtet lassen.
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29
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Quis in igne positus igne non uratur?
Quis Papie demorans castus habeatur,
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Wer wird nicht gebrannt, wenn er im Feuer steht?
Wer kann als keusch bestehen, der in Pavia verweilt,
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31
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ubi Venus digito iuvenes venatur,
oculis illaqueat, facie predatur?
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wo Venus mit dem Finger die jungen Männer jagt,
mit Augen sie in Schlingen lockt, mit dem Gesicht zur Beute macht?
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33
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Si ponas Hippolytum hodie Papie,
non erit Hyppolytus in sequenti die.
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Wenn du Hippotylus heute zur Brücke Pavias bringst,
wird er daraus folgend morgen kein Hippolytus mehr sein.
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35
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Veneris in thalamos ducunt omnes vie,
non est in tot turribus turris Alethie.
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Alle Wege führen in das Schlafgemach der Venus,
unter so vielen Türmen hat die Tugend keinen Turm.
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37
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Secundo redarguor etiam de ludo,
sed cum ludus corpore me dimittit nudo,
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Im zweiten Kapitel hält man mir das Spiel auch vor,
aber wenn das spiel mich mit nacktem Körper gehen lässt,
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39
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frigidus exterius, mentis estu sudo;
tunc versus et carmina meliora cudo.
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dampfe ich, nur außen kalt, von der Glut des Geistes,
und schmiede die besten Verse und Lieder.
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41
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Tertio capitulo memoro tabernam:
illam nullo tempore sprevi neque spernam,
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Im dritten Kapitel gedenke ich der Schenke:
Die habe ich zu keiner Zeit verschmäht noch werde ich sie je verschmähen,
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43
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donec sanctos angelos venientes cernam,
cantantes pro mortuis: "Requiem eternam."
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bis ich die heiligen Engel kommen sehe,
die für die Toten singen: "Ewige Ruhe".
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45
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Meum est propositum in taberna mori,
ut sint vina proxima morientis ori;
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Mein Vorsatz ist, in der Schenke zu sterben,
damit der Wein dem Mund des Sterbenden ganz nahe sei;
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47
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tunc cantabunt letius angelorum chori:
"Sit Deus propitius huic potatori."
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dann werden freudiger die Engelschöre singen:
"Gott sei gnädig diesem Trinker."
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49
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Poculis accenditur animi lucerna,
cor imbutum nectare volt ad superna.
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Mit den Bechern wird das Licht des Geistes angezündet,
das Herz fliegt vom Nektar getränkt zu den Sternen.
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51
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michi sapit dulcius vinum de taberna,
quam quod aqua miscuit presulis pincerna.
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Mir schmeckt der Wein aus der Schenke süßer als der,
den der Mundschenk des Priesters mit Wasser mischte.
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53
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Loca vitant publica quidam poetarum
et secretas eligunt sedes latebrarum,
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Manche Dichter meiden öffentliche Orte,
und sie wählen abgesonderte Plätze im Verborgenen aus,
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55
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student, instant, vigilant nec laborant parum,
et vix tandem reddere possunt opus clarum.
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sie bemühen sich, plagen sich, wachen und arbeiten nicht wenig,
am Ende können sie kaum ein berühmtes Werk abliefern.
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57
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Ieiunant et abstinent poetarum chori,
vitant rixas publicas et tumultus fori,
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Sie fasten und enthalten sich, die Scharen der Poeten,
meiden den Zank des Volkes und das Gewühl des Marktes,
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59
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et ut opus faciant, quod non possit mori,
moriuntur studio subditi labori.
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und um ein Werk zu schaffen, das unsterblich wäre,
sterben sie vor Mühe unterjocht von der Arbeit.
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Unicuique proprium dat Natura donum:
ego versus faciens bibo vinum bonum,
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Einem jeden gibt die Natur seine eigene Gabe:
ich trinke, wenn ich Verse mache, guten Wein,
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63
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et quod habent purius dolia cauponum;
vinum tale generat copiam sermonum.
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und was die Fässer der Wirte an Reinstem enthalten;
solcher Wein bringt der Worte ganze Fülle hervor.
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65
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Tales versus facio, quale vinum bibo,
nihil possum facere nisi sumpto cibo;
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Verse mache ich von der Art, wie der Wein beschaffen ist, den ich trinke,
nichts kann ich machen, wenn ich nicht eine Speise aufgenommen habe;
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67
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nihil valent penitus que ieiunus scribo,
Nasonem post calices carmine preibo.
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es ist nichts wert, was ich nüchtern schreibe,
ich werde nach dem Trinken sogar Ovid im Dichten übertreffen.
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69
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Michi nunquam spiritus poetrie datur,
nisi prius fuerit venter bene satur;
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Mir wird nie der Geist der Poesie verliehen,
wenn der Bauch nicht vorher gut gesättigt worden ist;
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71
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dum in arce cerebri Bacchus dominatur,
in me Phebus irruit et miranda fatur.
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wenn in der Festung des Hirns Bacchus die Herrschaft hat,
kommt Phoebus über mich und vollbringt Wunder.
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73
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Ecce meae proditor pravitatis fui,
de qua me redarguunt servientes tui.
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Schau, ich war der Offenbarer meiner eigenen Verdorbenheit,
deren deine Diener mich anklagen.
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75
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sed eorum nullus est accusator sui,
quamvis velint ludere seculoque frui.
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aber von diesen ist keiner ein Ankläger seiner selbst,
obwohl sie spielen und die Welt genießen wollen.
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77
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Iam nunc in presentia presulus beati
secundum dominici regulam madati
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Jetzt schon soll der in Gegenwart des glücklichen Bischofs
nach der Richtschnur des Gebots des Herrn
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79
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mittat in me lapidem neque parcat vati,
cuius non est animus conscius peccati.
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einen Stein auf mich werfen und nicht den Dichter schonen,
dessen Herz sich keiner Sünde bewusst ist.
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81
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Sum locutus contra me, quicquid de me novi,
et virus evomui, quod tam diu fovi.
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Ich habe gegen mich gesprochen, alles was ich von mir weiß,
und ausgespien das Gift, das ich so lange förderte,
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83
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vita vetus displicet, mores placent novi;
homo videt faciem, sed cor patet Iovi.
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mein altes Leben misfällt mir, die neuen Sitten gefallen mir;
der Mensch sieht das Gesicht, Jupiter aber sieht offen das Herz.
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85
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Iam virtutes diligo, vitiis irascor,
renovatus animo spiritu renascor;
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Schon liebe ich die Tugenden, den Lastern bin ich erzornt,
mit neuem Herzen werde ich im Geiste wiedergeboren;
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87
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quasi modo genitus novo lacte pascor,
ne sit meum amplius vanitatis vas cor.
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gleich einem neugebornen Kind ernähr ich mich mit neuer Milch,
damit mein Herz nicht länger das Gefäß der Eitelkeit sei.
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89
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Electe Colonie, parce penitenti,
fac misericordiam veniam petenti,
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Erwählter Kölns, schone den Bereuenden,
schenke dein Erbarmen dem, der um Verzeihung bittet,
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91
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et da penitentiam culpam confitenti;
feram, quicquid iusseris, animo libenti.
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und gib dem, der seine Schuld bekennt, Reue;
mit freudigem Herzen werde ich ertragen, was auch immer du befiehlst.
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93
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Parcit enim subditis leo, rex ferarum,
et est erga subditos immemor irarum;
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Es schont nämlich die Untertanen der Löwe, der König der Tiere,
und gedenkt nicht seines Zorns gegen die Untertanen;
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95
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et vos idem facite, principes terrarum:
quod caret dulcedine, nimis est amarum.
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dasselbe tut auch ihr, ihr Herrscher dieser Erde:
was der Milde ganz entbehrt, allzu bitter ist's.
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